Keel philosophiert: Schneller, weiter, höher. - Oder darf ich mich verweigern?

18.08.2018 - Menschen

Artikel von Albert Keel

Schneller Weiter Hoeher Oder Darf Ich Mich Weigern

Lässt die Gesellschaft, die Wirtschaft zu, dass wir uns verweigern? Dass wir abseits stehen wollen? Dass wir selbstbestimmt durchs Leben gehen? Dass wir nicht mitmachen, in diesem Hamsterrad von «Schneller, weiter, höher?» Heute habe ich mir darüber wieder einmal Gedanken gemacht. Und das aus gutem Grund.

Heute ist wieder so ein Tag. Vielleicht passiert es Ihnen auch hin und wieder. Der Wecker reisst mich mitten aus einem wunderbaren Traum und holt mich in die Realität des Alltags zurück. Dunkler, kalter Morgen. Völlig verwirrt und noch total geflasht schaue ich auf die Uhr und stelle fest, dass ich den Wecker eine halbe Stunde später als üblich gestellt habe. Puuh. Adrenalin schiesst durch meine Blutbahnen. Und die „to-do-Liste“ oder besser gesagt die aufgeschobenen Pendenzen, die noch unbearbeiteten Projekte und die vereinbarten Termine rattern durch mein Gehirn und statt mich anzutreiben, haben sie eine geradezu lähmende, ja fast schon beängstigende Wirkung. Kennen Sie das?

«Gring ache u seckle…»

Statt mit grosser Freude auf die bevorstehenden spannenden Stunden aus dem Bett zu hüpfen, liege ich mit Herzklopfen, beengter Brust und schweissgebadet da und frage mich: Ist es das, was ich will? Was ich brauche? Was mich weiterbringt? Muss es denn immer «Schneller, weiter, höher» gehen? Kann es denn nicht einfach mal genug sein? Soll das Motto immer «Gring ache u seckle…» heissen, so wie unsere Anita Weyermann mal sagte? Was denken Sie?

Immer wieder gibt es diese Momente und jetzt ist gerade einer, da will ich nicht mehr so «Schneller, weiter, höher»-rennen. Da will ich mich verweigern. Am Wettlauf nicht mehr teilnehmen. Mein eigenes Tempo laufen. Eines das mir gut tut. Das nicht von anderen bestimmt wird. Möchte am liebsten rüberkriechen, unter die Decke meiner Frau. Ganz nahe. Fast schon Schutz suchend mich ankuscheln. Und einfach alles ausblenden. Nur für ein paar Minuten. Ein paar wenige Minuten. Und alles wäre wieder gut.

 

Laufen im Hamsterrad kann Feuer entfachen

Doch nein! Mein Verantwortungsbewusstsein, mein schlechtes Gewissen melden sich. Du musst raus. Sofort. Duschen. Frisch machen. Mich im Spiegel schön lächeln. Kaffee runterschlürfen und los. Die Zeit läuft. Die Arbeit ruft. Hamsterrad dreht. Und ich mittendrin. Doch eines muss ich zugeben: Wenn ich drin bin, dann fühle ich mich nicht schlecht. Nicht ausgelaugt. Nicht gestresst. Dann will ich «Schneller, weiter, höher» und das möglichst sofort. Dann bin ich proaktiv. Kreativ. Antreibend. Fordernd. Dann gibt es kein Halten. Kein Ausruhen. Keine Ausreden. Nur lachend. Hin und wieder fluchend. Manchmal Selbstgespräche führend. Und dann, genau dann ist diese vermeintlich schlechte Seite, dieses Hamsterrad, wieder eine gute Seite. Eine Seite, die sehr viel Spass macht. Die Energie erzeugt. Die Enthusiasmus entfacht. Die das Feuer in mir entflammt.

Als Unternehmer könnte ich mein eigenes Tempo laufen. Könnte selbstbestimmter leben, statt mich fremdbestimmt zu fühlen. Könnte aus dem Hamsterrad des schnellerweiterhöher ausbrechen und dies meinen Mitarbeitenden auch vorleben. Könnte. Sollte. Müsste. Wollte. Ja, dieser Konjunktiv. Wie oft sinniere ich mit meiner Frau zu diesem Thema. Und wie oft bleibt alles stecken in diesem bescheuerten Konjunktiv oder in der Aussage, «wenn… dann…».

 

 

Wie viel ist genug?

Immer wieder sind wir Gefangene in der eigenen Freiheit. Und immer wieder stellen wir uns die Frage: «Wie viel ist genug?» Dies bezieht sich nicht nur auf Geld. Auf Besitz. Sondern auf unser gesamtes Leben. Auf unsere Familien. Freunde. Freizeit. Unternehmungen, Arbeit. Auf unsere wahrgenommene Lebensqualität. Nächtelange Diskussionen haben wir darüber schon geführt, Flaschen mit gutem Wein dabei getrunken, hin und wieder eine feine Zigarre geraucht und doch bis heute keine Antwort gefunden, vielleicht nicht finden wollen. Denn auch solche Nächte sind wertvoll. Sind verbindend. Und ich frage Sie: Braucht es dazu überhaupt eine Antwort?

Je tiefer ich in das «Schneller, weiter, höher» eintauche, desto mehr öffnen sich zwei Seelen ach in meiner Brust. Aus Sicht des Unternehmers für die Mitarbeitenden, das Unternehmen und unsere Kunden will ich möglichst «Schneller, weiter, höher». Will mit meinem Team die höchsten Höhen, die weitesten Weiten und alles ganz schnell erreichen. Ich will mehr davon. Weil wir noch viel mehr davon haben. Noch viel mehr davon geben können. Noch viel mehr davon erreichen können. Weil in uns, in unserem Team ein grossartiges Potenzial schlummert, das wir zum Leben erwecken können und auch wollen. Zum Wohle aller. Und zwar jetzt und sofort. In dieser Hinsicht bin ich ein Getriebener des Erfolgs. Ein «Schneller, weiter, höher»-Junkie mit Drang nach Bedeutung.

Vielleicht liegt es an den Jahren

Und auf der anderen Seite will ich mich all dem verweigern. Will nicht mehr partizipieren. Will mein, will unser Leben gemeinsam so gestalten, wie es für meine Frau und für mich passt. Mir die Freiheiten nehmen, dann schnell zu sein, wann wir es wollen, dann weiter zu kommen, wann wir es wollen, dann höher zu fliegen, wann wir es wollen.

Und ich spüre diese Zerrissenheit, diese Ambivalenz, diese Spannung. Und es kann sein, dass Sie diese meine Gedanken, meine Gefühle nachvollziehen können. Dass es Ihnen hin und wieder auch so geht. Vielleicht liegt es an den Jahren. An der Sehnsucht nach dem inneren Frieden oder vielleicht auch an der Angst, dass es irgendwann für alles zu spät ist. Denn wer weiss schon, ob wir morgen früh noch vom Wecker aus einem wunderbaren Traum gerissen werden.

Ein gutes und selbstbestimmtes Leben wünsche ich Ihnen

Ihr Albert Keel